Text – Die Minuten, die wir am Gleis zusammen warten

Ich hatte sie schon auf dem Bahnsteig gesehen. Ich kann nicht sagen, woran, ich kann nur sagen, dass sie mir aufgefallen ist. Ihre Haare waren so geschnitten, dass ihre großen Augen frei waren, und dass sie dennoch hinten einen Zopf machen konnte. Sie hatte eine großen Rucksack vor sich stehen. Einen Rucksack, wie ich ihn in meinem Jahr in Schweden dabei gehabt hatte. Zusammen mit vielen anderen warten wir, bis der Zug in den Bahnhof eingefahren war. So ein roter Doppeldecker mit blauen Sitzen. Ich ließ mich in einem Vierer nieder. Dann sah ich dieses Mädchen den gang entlangkommen und hoffte, dass sie sich zu mir in den Vierer setzen würde.

Eigentlich eine dumme Idee, denn ich hatte gehofft, die fünf Stunden in der Bahn schlafen zu können. Ich beobachtete, wie sie sich auf einen Platz auf der anderen Seite des Ganges niederließ, ein Buch hervorholte und anfing, zu lesen. Mir sollte es recht sein. Ich schloss dir Augen und döste. Dann fuhr der Zug an und ich öffnete die Augen und sah in das lächelnde Gesicht des Mädchens, das nun in meinem Vierer saß.
„Wie lange bist du in dem Zug?“
Ich sagte es ihr.
„Ich hab’ gedacht. Wir könnten zusammen Zug fahren. Dann brauchst du nicht vor Langeweile zu schlafen und ich nicht zu lesen.“
Ich hätte entgegnen können, dass ich nicht aus Langeweile, sondern aus Müdigkeit schlief. Ich hätte mir dadurch viele schlaflose Nächte und viel nachdenken ersparen können. Hätte.
Ich nickte, sie lächelte, holte ihren Rucksack und gab mir die Hand. Ich wollte mich vorstellen, doch sie schüttelte den Kopf und legte ihren Finger auf meinen Mund.
„Erzähl mir alles über dich, aber sag mir nicht, wer du bist.“
Ich stutzte und schwieg.
„Stehst du auf Mädchen?“
Wieder ein Nicken.
„Ich auch. Also, auch auf Männer.“
So fing es an. Sie erzählte und ich hörte zu, dann tauschten wir. Wir lachten, wir wurden melancholisch, wir waren ernst und sarkastisch. Das Abteil füllte und leerte sich mit Menschen. Manche waren interessiert, manche lachten mit, manche störten wir und manche waren empört. Und machte das alles nichts aus, wir waren anonym. Ihnen und uns gegenüber.
Die ganze Zeit hatte sie diese unnahbare Aura und gleichzeitig erfuhr ich ihre intimsten Geheimnisse.
Dann kam der nächste halt, der meine Station sein würde. Ich dachte daran, einfach weiterzufahren, doch sie las meine Gedanken und schüttelte den Kopf.
„Lieber Fremder, du musst aussteigen und wieder am normalen Leben teilnehmen. Aber man sagt, man sieht sich immer zweimal im Leben.“
Ich wusste, sie hatte Recht.
Ich nickte, sie umarmte mich.
Ich stand auf, sie lächelte.
Ich stieg aus, sie winkte, dann stand ich allein auf dem Gleis.

Ob ich sie jemals wieder getroffen habe?
Ich habe seitdem viele Fremde kennen gelernt und ihn Flugzeugen und Zügen viele schöne Gespräche geführt und ich hielt immer die Augen offen, doch nie mehr habe ich die Augen geöffnet und in dieses lächelnde Gesicht geschaut.

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