Text – Bin ich echt?

Mit schnellen Strichen flitzt der Bleistift über das Papier, zuerst scheinen es nur einzelne Striche und Kreise zu sein, doch langsam setzt sich das Einzelne zu einem Bild zusammen. David sitzt über dem Blatt Papier und beobachtet, wie unter seiner Hand ein Mensch entsteht. Ein bisschen breitbeinig, lockere Klamotten, Haare in die Augen und Kopfhörer um den Hals hängend steht er unter einer Brücke und schaut die leere Wand an. David zeichnet den Rest von der Welt des Menschen den er gerade erschaffen hat. Es ist ein wolkenloser Himmel, im Baum am rechten Bildrand sitzen Vögel. Im Hintergrund, ganz grob, nur angedeutet sieht man die Stadt die keinen Namen hat. David setzt sich auf und streckt sich. Ein Schluck aus dem Glas neben ihm und weiter geht’s mit dem nächsten Bild. Bild für Bild zeichnet er seinen Comic von Felix, dem Sprayer. Felix, der Sprayer aus der Stadt die keinen Namen, hat mit einem Leben das es noch nicht gibt.
Während David Felix die Wand besprühen lässt, denkt er sich ein Leben für Felix aus. Felix ist 17 und voller Lebensenergie. Seine Freundin macht ihn glücklich, die Schule eher nicht. Doch das sprayen lässt ihn alles vergessen, er sprüht sich seine eigene Welt. Er sprüht einen Körper, einen Menschen. Den Menschen der er gerne wäre. Und während er sprüht, denkt er sich das Leben aus, das zu dem Bild unter der Brücke gehört. Ein unabhängiges Leben, glückliche Beziehung, bloß keine Ehe. Kinder? Hm… Ja 2, im Abstand von zwei Jahren, am besten ein Mädchen und ein Junge. Und während er sich das Leben des Menschen an der Wand ausdenkt, denkt er über sein Leben nach, das Leben, das David sich ausgedacht hat. Wird er mit seiner jetzigen Freundin glücklich werden? Felix hofft es, doch David weiß das es nicht so ist. Sie wird ihn verlassen und Felix wird sich flüchten in die Welt des Sprayens und des Menschen an der Wand. Wird sein Leben besser verlaufen lassen als sein eigenes.

Und plötzlich haben David und Felix den gleichen Gedanken. In gewisser Hinsicht sind sie beide Götter. Sie erschaffen Menschen und deren Leben. Sie bestimmen, wie sie sich verhalten, was sie essen und was sie anziehen, welche Menschen sie mögen und welchen sie aus dem Weg gehen. Sie bestimmen, wann sie glücklich sind und wann sie sterben. Und während David hier aufhört, darüber nachzudenken, sondern weiterzeichnet, hört Felix auf zu sprayen und spinnt den Gedanken weiter. Was ist, wenn er nicht nur Leben erfindet sondern selbst erfunden ist? Er schaut nach oben und blickt mit seinen schwarzen Augen direkt in die Augen von David und fragt: „Bin ich echt?“
David gibt dem Bild noch den letzten Schliff, radiert die herunterhängende Hand mit der Spraydose noch mal weg und zeichnet sie neu. Dann legt er den Bleistift weg und sieht sich das fragende Gesicht von Felix an. Er lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck aus dem Glas neben ihm und schaut aus dem Fenster rechts von ihm. In der Ferne sieht er die Stadt, die ihm als große Vorlage für die Stadt ohne Namen gedient hat. Felix Gedanken sind vom Blatt in Davids Kopf gesprungen und machen sich breit. Er fährt sich mit der Hand über seine kurzgeschnittenen Haare, sieht sich in seinem Zimmer um. Sein Bett an der Wand, der Schreibtisch in der Ecke und das Regal gegenüber. Er denkt über sein Leben nach. Über seine Freundin, die mit ihm glücklich ist, aber immer von der Vorstellung gepackt wird, dass er sie verlassen wird. Er denkt über seine Zeit in der Schule nach, über seine Freunde, seine Familie, Fantasien, seine Träume und seine Zukunft. Was ist, wenn seine Wirklichkeit auch nur von einer Vorlage abgepaust ist? Wenn auch er erfunden ist? Na ja, erfunden wurde er, aber war es Gott, der ihn erfunden hatte? Er holt tief Luft lehnt sich zurück schaut nach oben und sieht mir, dem Schreiber, mit seinen blauen Augen direkt in meine. Dann fragt er: „Bin ich echt?“
Ich lege den Stift aus der Hand und fahre mir mit dieser über meinen Mund. Die Fantastischen Vier singen in meinen Boxen: „Bevor wir falln, falln wir lieber auf.“ Ich schaue aus dem Fenster und sehe viel Schnee und kahle Bäume. Im Baum am rechten Fensterrand sitzen viele Vögel. Im Hintergrund in weiter Ferne sehe ich den Vorort des Dorfes in dem ich wohne. Neben mir steht die Packung Doppelkekse an der ich mich ab und zu bediene. Und durch meinen Kopf schießt die gleiche Frage dir zuvor Felix und Davids Kopf durchkreuzt hat. Ich schaue hoch und sehe mit meinen braunen Augen in die Augen des Lesers und Frage: „Bin ich echt?“

Veröffentlicht in der Slam Antholgie 2 vom Kupferdächle Pforzheim

Das Drabble zum Gedicht gibt’s hier.

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Kommentare

  1. […] Kein Wunder, denn “Bin ich echt” gibt’s schon in zwei Versionen, als normalen Text und als […]

  2. […] Den Text “Bin ich echt?” gibt’s hier. […]

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