Text – HBF Gegenwart

Immer im Kreis gehend, schaut er nach dem nächsten Zug. Der Bahnhof ist leer, bis auf ihn und die Kassiererin im Häuschen. Auf seinem Namensschild steht: ‚Raum‘ auf ihrem ‚Zeit‘. Es ist ein kleiner Provinzbahnhof, viel Gras und Natur außen herum. Auf einem alten Schild an den Gleißen steht der Name des Ortes: ‚Gegenwart‘.


Plötzlich fangen die Schienen an zu vibrieren. Herr Raum sieht auf und rückt mit der Hand seine Mütze ein Stück weiter hoch. Ein Zug fährt in den Bahnhof ein. Mit lautem Quietschen hält der Zug, dann schnaubt er und die Türen öffnen sich. Die Stimme von Frau Zeit schallt durch zwei Lautsprecher. „Der Eilzug L.E.B.N. aus Vergangenheit Richtung Zukunft. Willkommen in Gegenwart. Wir wünschen ihnen einen schönen Aufenthalt.“
Doch keiner verlässt den Zug. Alle warten sie freudig darauf, dass der Zug endlich in Zukunft ankommt, denn da wollen alle hin. Alle bis auf die Kinder. Sie zeigen nach draußen und schauen fasziniert in die Landschaft. Sie ziehen ihre Eltern an den Rockzipfeln und Händen, sie wollen raus, ein bisschen Gegenwart anschauen. Doch die Erwachsenen schütteln nur den Kopf. Die kleinen Kinder müssen noch viel lernen. Jeder weiß doch, dass es in Zukunft viel schöner und besser ist. Und so schließen sich die Türen wieder, ohne dass ein Mensch in Gegenwart bleibt. Der Zug pfeift noch einmal, dann rollt er langsam los. Die Menschen freuen sich und winken den Beiden am Bahnsteig zu, artig winken diese zurück. Und wieder sind Herr Raum und Frau Zeit alleine in Gegenwart. Doch das werden sie nicht lange bleiben, denn es ist gewiss, das bald die nächste Ladung Menschen vorbeirauschen wird.
Die Schienen glänzen und blinken vor Sauberkeit durch das ständige Benutzen. Die Schienen in die andere Richtung dagegen sind braun und verrostet. An vielen Stellen sind sie schon von Unkraut überwuchert. Es ist schon lange keiner mehr von Zukunft nach Vergangenheit gefahren. Anscheinend ist dieser Ort nicht so Attraktiv.
Schon nähert sich der nächste Zug aus Vergangenheit. Er hält wieder an und öffnet die Türen. Ein weiteres Mal leiert Frau Zeit ihren Text herunter. Bei dem Wort ‚Zukunft‘ fangen die Menschen im Zug an zu jubeln und pfeifen. Doch dieses Mal steigt jemand aus dem Zug. Ein Stock schwingt aus der Tür und ein alter Mann folgt ihm. Die Menschen schreien ihm nach, was er denn hier will, ob er denn nicht mit möchte nach Zukunft, wo es doch viel schöner ist, doch der Alte lächelt nur und brummt in seinen Bart, das er noch ein bisschen hier bleiben will. Er nickt Frau Zeit und Herrn Raum zu, die beiden lächeln wissend, und der Mann setzt sich auf eine Bank und schaut in die Natur.
Die Kinder sind es, die zu ihm wollen, die ihm recht geben und ihm Gesellschaft leisten wollen, doch wieder halten die Eltern sie fest und so fährt der Zug an. Die Menschen freuen sich und winken dem alten Mann zu, der alleine auf der Bank sitzt und er winkt zurück.
Alles wird wieder still, kaum etwas bewegt sich, da kommt ein kleiner Schmetterling und setzt sich auf die Hand des Mannes, die den Stock hält. Seine kleinen Flügel bewegen sich ganz langsam und zärtlich. Die Augen des Mannes beobachten das wunderschöne Tier und ein Lächeln erscheint unter seinem weißen Bart. Wieder kommt ein Zug an. Und ein weiteres Mal wiederholt sich die ganze Prozedur. Zug hält, Türen auf. Frau Zeit’s Stimme, die Kinder die in die Gegenwart wollen, die Erwachsenen, denen die Zukunft am Herzen liegt. Die Türen schließen sich, der Zug rollt an und wieder winken die Menschen. Raum und Zeit winken zurück, doch der Alte Mann schaut dem Zug nur nach, dann spricht er mit dem Schmetterling. „Schau sie dir an, diese Narren, sie winken und merken doch nicht, dass Raum und Zeit nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Und würden diese Tölpel etwas genauer auf die Schilder achten, würden sie bemerken, das die Ortsnamen ‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ nur schlecht über die echten Namen geklebt sind, denn tatsächlich steht auf allen dreien das Gleiche: ‚Hier und Jetzt‘

Veröffentlicht in der Slam Anthologie 1 des Kupferdäche Pforzheim. – Vergriffen.

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Kommentare

  1. Avatar von Florek
    Florek

    Dieser Text flasht mich jedes mal wenn ich ihn lese.
    Der Hammer! Einfach Genial!
    Es stimmt einfach. Auch wenn ich es nicht immer hinkriege, versuche ich trotzdem der „Alte Mann“ zu sein und ich finde es gelingt mir ganz gut;-)
    One Love, Florek

  2. […] weiter entwickelt, weiter verarbeitet wird und immer verändert wird, hier die 2015er-Version einer Kurzgeschichte, deren erste Fassung aus dem Jahr 2004 stammt. Viel […]

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