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Roman: Nordstadt von Annika Büsing

„Ich liebe dich“, sage ich.

Der erste Satz aus „Nordstadt

Ich hätte nicht freiwillig zum Buch gegriffen. Titel und Cover haben mich nicht angesprochen und mit Steidl habe ich bisher andere Bücher in Verbindung gebracht. Aber im Rahmen meiner Juryarbeit bei Das Debüt lag dieses kleine Büchlein plötzlich auf meinem Tisch. Also dann, aufgeschlagen.

Ich hab die Lektüre zwar ein paar Mal unterbrechen müssen, aber tatsächlich fühlt es sich an, als ob Annika Büsing mich mit ihrer Geschichte und ihrer Sprache vollkommen in den Bann gezogen und nach einem wilden Ritt wieder ausgespuckt hat. Nene ist Anfang 20 und Bademeisterin, und das ist vielleicht das einzig Gute in einem richtigen Scheißleben. Und dann steht da Boris, der Krüppel mit einem eigenen Scheißleben. Reicht das, was auch immer zwischen ihnen ist, um zwei schlimme Vergangenheiten auszuhebeln?

Büsings Sprache ist direkt und dreckig, ist ehrlich und schmerzhaft im besten Sinn.

Nordstadt geht unter die Haut und beschäftigt mich noch Wochen später. Ich freue mich auf mehr solcher Geschichten und auf noch mehr von Annika Büsing. Ein Glück ist das neue Buch schon draußen.

Nordstadt von Annika Büsing erschien bei Steidl. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Hörbuch: Was im Dunkeln liegt von Harlan Coben, gelesen von Gabriele Blum und Detlef Bierstedt

Im Alter von etwa vierzig bis zweiundvierzig Jahren – er wusste nicht genau, wie alt er war – fand Wilde endlich seinen Vater.

Der erste Satz aus Was im Dunkeln liegt.

Ich hab mich so gefreut auf dieses Buch. Der Junge aus dem Wald war großartig und nach einer Weile konnte ich auch Detlef Bierstedt gut zuhören. Wilde ist ein toller Charakter und ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Jetzt gibt es diesen zweiten Teil. Wilde, der Junge aus dem Wald, findet endlich seine Wurzeln. Denkt er zumindest. Und es gibt einen neuen Fall, bei dem er helfen muss. Und natürlich ist dieser Fall auch irgendwie mit ihm verbunden.

Ich mag Harlan Coben und seine Geschichten, besonders als Hörbücher. Und ich will auch diese mögen. Aber irgendwie werde ich diesmal weder mit der Geschichte noch mit Detlef Bierstedts Leistung als Sprecher warm. Gabriele Blum macht ihre Sache wunderbar, aber Bierstedt, der mir schon vor zwei Jahren müde oder erschöpft vorkam, kommt mir vor, als kämpft er sich durch das Buch. Ich hab Bierstedt vor zehn Jahren bei einer Primavista-Lesung mit Oliver Rohrbeck gesehen und ich mag ihn als Mensch und auch seine Sprechkunst. Es tut mir auch wirklich leid, aber ich finde, man hört ihm mittlerweile das Alter und eben eine gewisse Müdigkeit an, die einem Text nicht gerecht wird. Das ist wirklich schade. Und dazu kommt, dass die Geschichte diesmal auch nur okay ist. Während mir vom ersten Buch immer noch einiges in Erinnerung ist, habe ich von diesem – obwohl es mit ganz vielen aktuellen Bezügen arbeitet und Dinge wie Trolle und Hass im Internet thematisiert – kaum mehr was im Kopf. Dafür war es einfach nicht gut genug. Wirklich schade. Natürlich werde ich mir den nächsten Teil auch anhören, aber ich freue mich auf eine bessere Geschichte als dieses Mal.

Was im Dunkeln liegt von Harlan Coben, übersetzt von Gunnar Kwisinski und gesprochen von Detlef Bierstedt und Gabriele Blum, erschien bei der Hörverlag.

Hörbuch: Treue von Hernan Diaz, gelesen von Stephan Schad, Johann von Büöow, Sabine Arnhold und Valery Tscheplanowa

Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedete.

Der erste Satz aus Treue.

Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, worauf ich mich einließ. Hatte gehört, dass das Buch gut sein soll, hab mir keinen Klappentext durchgelesen, sondern bin direkt in das Hörbuch eingestiegen und in diese Welt von Benjamin Rask und seiner Geschichte über Aktien und Geld und Macht im Amerika Anfang des letzten Jahrhunderts. Spannend erzählt, ja, aber was genau höre ich da eigentlich? Und warum höre ich nach ein paar Stunden die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, die sich erstaunlich ähnlich anhört wie jene, die ich von Rask gehört habe? Erst im dritten Viertel wird mir klar, dass es immer um den gleichen Menschen geht, nur eben immer aus anderen Blickwinkeln. Und das macht den Reiz des Buches aus, so klar gezeigt zu bekommen, wie sehr sich eine Geschichte ändert, je nachdem, wer sie erzählt. Treue ist kein Buch, dessen Inhalt leicht erzählt werden kann. Weil es nicht nur um die Geschichte geht, sondern auch um die Erzählform. Ich weiß nicht, ob ich es in geschriebener Form durchgehalten hätte. Aber Valery Tscheplanowa, Sabine Arnhold, Johann von Bülow und Stephan Schad hauchen den vier Teilen so ein schönes Leben ein und verkörpern den Inhalt auf großartige Weise, dass ich gar nicht anders kann, als dran zu bleiben. Hernan Diaz erzählt weniger eine einzigartige Geschichte, als dass er gleich mehrere Mythen aufbricht und Wahrheit neu beleuchtet. Ein nicht ganz einfacher, aber großartiger Roman, den ich besonders in der Hörfassung sehr empfehlen kann.

Treue von Hernan Diaz wurde übersetzt von Hannes Meyer, gesprochen von Valery Tscheplanowa, Sabine Arnhold, Johann von Bülow und Stephan Schad und erschien bei Argon. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Hörbuch: Fairy Tale von Stephen King, gelesen von David Nathan

Ich bin mir sicher, dass ich diese Geschichte erzählen kann.
Sicher bin ich mir allerdings auch, dass niemand sie glauben wird. Das macht nichts. Es reicht mir, sie zu erzählen. Das Problem – das bestimmt viele Schriftsteller haben, nicht nur Frischlinge wie ich – ist nur: Wo anfangen?

Der erste Absatz aus Fairy Tale

Eigentlich geht es nur um die Liebes eines Menschen zu einem Hund und was er für ihn auf sich nimmt. Zumindest ist es für mich so, der nun seit knapp einem Jahr mit einem Hund zusammenlebt.

Charlie lebt mit seinem Vater in dieser kleinen Stadt und wäre wohl immer nur an dem alten verfallen Haus vorbeigelaufen, wenn er nicht eines Tages das Jaulen von Radar gehört hätte. Der Hund macht ihn auf seinen Besitzer Howard aufmerksam, der von der Leiter gefallen ist und Hilfe braucht. Howard ist Einsiedler und wäre es wohl bis zum Ende geblieben, wenn Charlie nicht in sein Leben getreten wäre. Das erste Drittel des Buches verfolgen wir, wie Charlie und Howard gute Freunde werden und Radar sich in Charlies Herz schleicht. Ein Drittel lang sind wir in unserer Realität mit einer leichten Ahnung des dunklen Märchens, das folgt. Und wie es folgt.

Manchmal hab ich mich gefragt, ob es nötig ist, diese erste lange Drittel, dass sich wie ein sehr sehr langer Vorspann anfühlt. Besonders, wenn man den Klappentext liest, der diesen auf einen Satz reduziert. Aber ich höre David Nathan wirklich gerne zu, wie er mir Charlie und seine Welt näher bringt. Also ist das vollkommen in Ordnung. Und es bereitet mich auf die Welt vor, die danach kommt. Hätte ich nicht gebraucht, weil ich ja weiß, worauf ich mich einlasse, wenn ich Stephen King höre. Aber trotzdem ganz schön. Auch, weil es das Märchenhafte so gut in unsere Realität einwebt.

Ich mag Fairy Tale. Unter anderem, weil ich David Nathan mehr als 27 Stunden zuhören kann. Ich weiß nicht, ob ich ihn allen empfehlen kann. Aber wen du Lust hast auf Realität plus X, in die du eine ganze Weile eintauchen kannst, viel Spaß!

Fairy Tale von Stephen King wurde übersetzt von Bernhard Kleinschmidt, gesprochen von David Nathan und erschien bei RandomHouse Audio. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Hörbuch: Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes, gelesen von Nora Tschirner

Als Kind habe ich wieder und wieder von Zyankali geträumt. Ich weiß nicht, wie das Gift seinen Weg in mein Kinderzimmer gefunden hatte. Da sind schemenhafte Erinnerungen an Kriegs- und Agentenfilme, in denen Bösewichte silberne Kapseln zerbeißen und sich schäumend und röchelnd dem Zugriff entziehen. Vielleicht hatte ich auch schon eine vage Vorstellung von dem, was Goebbels mit seinen Kindern im Bunker gemacht hatte.

Der erste Absatz aus Die Träume anderer Leute

Judith Holofernes, ihre Stimme und ihre Texte begleiten mich seit knapp 20 Jahren, sind immer wieder an verschiedenen Orten und Zeitpunkten meines Lebens aufgetaucht. Und als wir vor ein paar Jahren bei Amanda Palmer auf dem Konzert waren, war Judith auch da. Hab mich nicht getraut, sie anzusprechen.

Jetzt also gibt es das Buch von Judith, vorgelesen von Nora Tschirner. Das ist einerseits total verständlich, weil Judith gut auf ihre Stimme achten muss, andererseits vermischen sich in einem Kopf Judith und Nora andauernd. Das Buch zu hören ist wie den zweiten Akt eines Filmes zu sehen, in dem Akt Eins aus einer anderen Perspektive nochmal erzählt wird. Also zurück in meine Jugend, zurück in die Momente, an denen ich die Helden zum ersten mal gehört habe und wo sie Teil meiner Erinnerung geworden sind, nur eben jetzt aus der Sicht von Judith.

Das ist spannend und nostalgisch und oft auch ernüchternd. Weil es hinter den Kulissen nie nur Liebe und Friede und so ist. Manchmal habe ich Tränen in den Augen und einige Male denke ich, Scheiße, dieses Gefühl kenne ich allzu gut.

Judith schreibt direkt und persönlich und ehrlich. Das macht viel des Buches aus. Manchmal denke ich, wenn ich beispielsweise Pola wäre, ihr Mann, dann würde ich mich von manchen Aussagen angegriffen fühlen. Aber vielleicht ist das der Preis für ein Buch, das mich auf so vielen Ebenen berührt.

Großen Respekt für diese Frau, ihr Tun und dieses Buch. Eines, das jede:r in jeder Art von Kulturarbeit gelesen haben sollte.

Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes wurde gelesen von Nora Tschirner und erschien bei Lübbe Audio. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.