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Leere Postkarten Revisited

Niklas Ehrentreich hat dieses wunderbare Projekt. Auf Rahmen & Reiz gibt es jede Woche eine neue Gästin oder einen neuen Gast und Schreibimpulse für Nik und diese Person. Raus kommen jede Woche wunderbare neue Texte, die aus diesen Impulsen entstehen.

Stelle dir vor, du findest eine alte Geschichte, die du geschrieben hast. Wie ist es ihr und ihren Figuren ergangen, seit du sie zuletzt gesehen hast?

Niks Schreibimpuls an mich

Nik hat mich durch seinen Impuls ziemlich weit in die Vergangenheit geschickt, eine Mischung aus Nostalgie und Scham für mein jüngeres ich. Aber Leere Postkarten von etwa 2006 ist immer noch irgendwie ein netter Text. Also habe ich mich gefragt, wie es da weitergegangen ist. Danke Nik, für diese tolle Aufgabe. Viel Spaß mit dem Text:

Die letzte Postkarte ist sieben Jahre her, und hätte ich gewusst, dass keine mehr kommt, dann hätte ich. Aber wer hätte nicht, wenn wir gewusst? Und dann vielleicht auch nicht. Weil damals war ich noch verheiratet, hatte Kinder und diesen Job. Jede deiner Karten war ein Ausschnitt eines Lebens, das ich nicht gewählt. Eine glühende Erinnerung an unseren letzten Abend am Strand. Ich mit großen Worten und dem Bild eines fantastischen Lebens, du mit der Gitarre. Better Man, die ganze Nacht. Von Pearl Jam, nicht Taylor Swift.

Du hast sie im Bus liegen lassen. Pass auf sie auf.

Jahrelang hing sie an der Wand, neben der Weltkarte. 41 Postkarten, die mich immer kurz haben schwelgen lassen, wenn sie angekommen sind. Bevor dann Timo gerufen hat. Oder Layla abgeholt werden musste. Oder noch ganz schnell einkaufen, tanken, die Nachrichten. 786 kleine Gründe, gestresst zu bleiben und sich aufzuregen. Und doch niemals die Kraft, irgendwas zu ändern.

Bis dieses Taxi von links kräftig genug ist. Und ich nach sieben Monaten Klinik das Haus räumen lasse, nur deine Postkarten und diese Gitarre. 

An guten Tagen sieht niemand das Humpeln, aber als ich nach 34 Stunden unterwegs sein dem kleinen Boot hinterher sehe und die Luft so heiß ist, dass ich nur flach atmen kann, habe ich nicht mehr die Kraft, das linke Bein sauber aufzusetzen. 

Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass noch eine Postkarte kommt. Ich dachte, Taha’a muss großartig sein, besser als alles andere und du bist immer noch hier. Erst auf der Reise ist mir in den Sinn gekommen, dass du mir einfach nicht mehr schreibst, weil du es aufgegeben hast. Oder du seit sieben Jahren nur drei Straßen weiter wohnst und wer schickt heute noch Postkarten? Aber wenn ich das vergilbte Datum auf der letzten richtig deute, dann hast du bis zuletzt an mich gedacht.

Der Löwe Alexandro Lolo und die Prinzessin Marina Schmidt. Ein Schreibmaschinengeschichte.

Ich war in einem Kindergarten und durfte acht Vorschulkindern Schreibmaschinen näher bringen. Dabei entstand folgende Geschichte. Die Kinder lieferten die Ideen, ich habe sie lediglich zusammengeschrieben.

Es war einmal ein Löwe. Und es war einmal eine Prinzessin. Der Löwe hieß Alexandro Lolo und er war richtig böse. Er hatte scharfe Zähne und ein Stummelschwänzchen. Die Prinzessin hieß Marina Schmidt, sie hatte pinke Haare, ein lila Kleid und ein glitzerndes Schwert.

Ein Tages war Marina Schmidt gerade auf dem Weg durch ihr Prinzessinnenreich, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. „Was war das?“, fragte sich die Prinzessin. Es war ein Grummeln und Beben. Marina Schmidt hatte Angst, sie wusste nicht, wer das Geräusch machte. Sie ging vorsichtig auf das Gebüsch zu, aus dem das Geräusch kam. Sie sah durch die Blätter und sah die scharfen Krallen eines Löwen. Der Löwe war wach und sah Marina Schmidt mit großen Augen an. Seine Krallen drückten sich in die Erde.

Mit einem schnellen Sprung war er auf den Beinen und griff Marina an! Marina zögerte keine Sekunde, sie zog ihr glitzerndes Schwert und hielt es dem Löwen entgegen. Der Löwe bremste gerade noch rechtzeitig ab.

„Hej!“, sagte der Löwe, „das ist unfair!“

Marina grinste und ihre pinken Haare leuchteten in der Sonne. 

„Lass mich in Ruhe“, sagte der Löwe. „Merkst du denn nicht, dass ich Schmerzen habe?“ – „Woher soll ich denn wissen, dass du Schmerzen hast?“

Alexandro Lolo jaulte auf. „Wenn ich Schmerzen habe, hat die ganze Welt Schmerzen.“ – „Also mir geht’s gut. Was ist denn los?“ – „Ich habe Bauchschmerzen. Ich habe heute Thunfischpizza gegessen. Mit Fleisch und Käse. Oliven gab’s auch noch. Und Salat und Nudeln mit Tomatensoße. Und dann gab’s auch noch Nachtisch. Pudding und Joghurt und Erdbeeren und Schokolade.“

Marina Schmidt lachte. Ganz arg.

„Da wundert’s mich nicht, dass du Schmerzen hast. Aber ich habe eine Idee. Im Schloss gibt’s ein Heizkissen und Sirup und Medikamente. Komm mit, dann hast du bald keine Schmerzen mehr.“

Am Abend, an der Ampel.

Die Kreuzung ist immer voll, eine Mischung aus Tram, Auto, Fahrrad und Fußgängern. Wir halten uns an das Rot der Ampel. Neben uns steht ein alter Mann, samt Hund. Beide ein wenig zottelig, beide ein wenig gebeugt. Für einen kurzen surrealen Moment wird es ruhig, keine Autos zwischen uns und der anderen Seite. Der Mann blickt die Straße entlang, dann sieht er zum Hund.

„Wie beide, wir riskieren jetzt Kopf und Kragen.“

Er macht einen Schritt auf die Straße und der Hund trottet hinterher. Er weiß noch nichtmal, was er riskiert. Er vertraut.

Straßenpoesie: Literatur unserer Generation

Jeder Buchstabe, nicht nur die meinigen, ein Schlag, jede Zeile ein heller Glockenton, eine unendliche Melodie, die zwar immer ähnlich, aber niemals gleich erscholl. Ein geschäftiges Treiben, man hörte die Spannung, die Arbeit, die Energie und in den seltenen Momenten von Ruhe, die winzigen Augenblicke, in welchen Niemand auf eine der 48 Tasten vor sich hieb, hörte man Gedanken wachsen wie das Gras. Wir arbeiteten nicht nur, wir erschufen.

Gegen Abend wurde die Melodie langsamer, manchmal sogar melancholisch. Die Menschen rieben die Fingerkuppen, streichelten die Sehnen und ließen die Knochen knacken.

Denn Literatur unserer Generation war kein federleichtes Gedicht, geschrieben auf Pergament mit dem schwungvollen Triumph einer Feder, sie war laut und dreckig, voller Schimpfwörter, sie tat weh und wir spürten sie noch nachts, wenn wir in Träumen auf unsichtbaren Tastaturen weiterhieben.

Aber wenn wir die verschwommenen Bilder der Demonstranten auf der Straße sahen, die Zeitungen verschmiert von der zu früh berührten Schwärze, wenn wir aus dem Fenster sahen, wo auf unserer Straße mehrere Banner gespannt waren, wenn wir unsere Parolen als Echo von den Häuserwänden widerhallen hörten, wussten wir, dass unsere Kunst nicht nur in unseren Köpfen war, sondern sich durch jeden Tastendruck heraus manifestiert hatte und real geworden war.

Geschrieben auf einer Hermes Baby.

Vergeudetes Potential

Mittlerweile muss sie sich selbst eingestehen, dass sie alt geworden ist. Die knarrenden Treppen bis ins Dachgeschoss nimmt sie Stufe für Stufe und immer öfter macht sie dazwischen halt. Aber noch will sie sich gewisse Dinge nicht nehmen lassen, so auch die Glasflaschen, die sie selbst zum Container bringt. Wer etwas benutzt, macht danach auch sauber, hatte ihr Vater immer gesagt. Ihr Vater ist nun seit 50 Jahren tot, aber sie hört immer noch seine Stimme, seine Melodie, mit der er dieses Mantra immer wieder gesagt hat.

Sie steht an den Containern, sortiert das Glas nach Farben und dreht bei jedem den Deckel ab, obwohl sie weiß, dass das nicht mehr nötig ist. Aber auch das ist ihr beigebracht worden. Zwei junge Frauen kommen auf sie zu, eher noch Mädchen und lange bevor sie bei ihr ankommen, weiß sie, dass sie Hilfe brauchen.

„Entschuldigung, wir müssten zur Erich-Kästner-Schule. Können Sie uns sagen, wo sie ist?“

Natürlich kann sie das und gerne macht sie das auch. Vielleicht sogar ein bisschen zu ausführlich, aber die Schule ist auch ein ganzes Stück weg. Auch das sagt sie den beiden, eine halbe Stunde Fußweg durch die Stadt müssten die Beiden schon einplanen, selbst wenn man noch jung ist.

Die Beiden nicken, muss wohl, sagen die Augen. Sie lächelt und sieht nach links und rechts. Keiner da, der sie beobachten könnte. Also stellt sie die Tasche mit den Gläsern ab, packt jeweils einen Arm der Mädchen und schließt die Augen. Bevor die Mädchen sich wegreissen können, stellt sie sich den Hof der Schule vor, die hintere Ecke, die einigermaßen verborgen hinter dem Kastanienbaum liegt. Sie hat den Geruch von schwitzenden Kindern in der Nase und spürt die achteckigen Platten unter ihren Füßen, dann schließen sich ihre Hände zu Fäusten und sie hört das „ffump“, das jedesmal kommt, wenn die Luft eine Leerstelle zu füllen hat. Das Lächeln wird zu einem Grinsen. Sie muss die Beiden nicht sehen, um sich vorzustellen, wie erstaunt sie sein werden. Das freut sie. Und glauben wird ihnen eh niemand.