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Hörbuch: Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes, gelesen von Nora Tschirner

Als Kind habe ich wieder und wieder von Zyankali geträumt. Ich weiß nicht, wie das Gift seinen Weg in mein Kinderzimmer gefunden hatte. Da sind schemenhafte Erinnerungen an Kriegs- und Agentenfilme, in denen Bösewichte silberne Kapseln zerbeißen und sich schäumend und röchelnd dem Zugriff entziehen. Vielleicht hatte ich auch schon eine vage Vorstellung von dem, was Goebbels mit seinen Kindern im Bunker gemacht hatte.

Der erste Absatz aus Die Träume anderer Leute

Judith Holofernes, ihre Stimme und ihre Texte begleiten mich seit knapp 20 Jahren, sind immer wieder an verschiedenen Orten und Zeitpunkten meines Lebens aufgetaucht. Und als wir vor ein paar Jahren bei Amanda Palmer auf dem Konzert waren, war Judith auch da. Hab mich nicht getraut, sie anzusprechen.

Jetzt also gibt es das Buch von Judith, vorgelesen von Nora Tschirner. Das ist einerseits total verständlich, weil Judith gut auf ihre Stimme achten muss, andererseits vermischen sich in einem Kopf Judith und Nora andauernd. Das Buch zu hören ist wie den zweiten Akt eines Filmes zu sehen, in dem Akt Eins aus einer anderen Perspektive nochmal erzählt wird. Also zurück in meine Jugend, zurück in die Momente, an denen ich die Helden zum ersten mal gehört habe und wo sie Teil meiner Erinnerung geworden sind, nur eben jetzt aus der Sicht von Judith.

Das ist spannend und nostalgisch und oft auch ernüchternd. Weil es hinter den Kulissen nie nur Liebe und Friede und so ist. Manchmal habe ich Tränen in den Augen und einige Male denke ich, Scheiße, dieses Gefühl kenne ich allzu gut.

Judith schreibt direkt und persönlich und ehrlich. Das macht viel des Buches aus. Manchmal denke ich, wenn ich beispielsweise Pola wäre, ihr Mann, dann würde ich mich von manchen Aussagen angegriffen fühlen. Aber vielleicht ist das der Preis für ein Buch, das mich auf so vielen Ebenen berührt.

Großen Respekt für diese Frau, ihr Tun und dieses Buch. Eines, das jede:r in jeder Art von Kulturarbeit gelesen haben sollte.

Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes wurde gelesen von Nora Tschirner und erschien bei Lübbe Audio. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Buch: Sie hat Bock von Katja Lewina

Bevor es richtig losgeht mit dem Eingemachten, finde ich, sollten wir uns besser kennenlernen.

Der erste Satz aus „Sie hat Bock

Katja Lewina redet über die Dinge, die uns irgendwie alle beschäftigen (sollten), über die wir uns aber nicht zu reden trauen. Wie auch Jüne Plā erzählt Katja Lewina über Sex, weibliche Lust und all die schmutzigen Sachen, die da noch dazugehören, und das auf frecher, im besten Sinne distanzloser Augenhöhe. Eigentlich macht sie das für ihre Kolumne auf jetzt, dieses Buch ist ein erweitertes Best of.

Ist nicht so, dass alles, was Katja erzählt, mir neu ist. Im Gegenteil, viele Sachen sind eigentlich total normal, fast alle Menschen kennen sie. Aber kaum jemand redet drüber. Und deshalb werden sie unnormal. Und genau das macht Katja: Sie redet über all diese Dinge, die normal sind und normal sein sollten. Dafür liebe ich dieses Buch.

Sie hat Bock von Katja Lewina erschien bei Dumont.

Erzählungen: Die Musik auf den Dächern von Selim Özdogan

Selim Özdogan hat diesen sehr eigenen Blick auf die Dinge, die uns umgeben. Regelmäßig schafft er es mit seinen Büchern, meinen Alltag neu zu füllen, weil ich Sachen, die mir selbstverständlich sind oder über die ich sonst nicht nachdenke, plötzlich anders sehe. In Die Musik auf den Dächern macht Selim das gleich mit 28 Texten.

Kurzgeschichtensammlungen haben – ebenso wie Anthologieserien wie Love, Death & Robots – fast immer die beiden gleichen Probleme. Das eine ist der schnelle Wechsel. Da bin ich gerade in der Welt und in der Sprache einer Erzählung und will wissen, wie es weitergeht, was diese Welt noch für mich bereithält, da ist es schon wieder vorbei. Und wenn ich dann noch in der letzten Erzählung hänge, kann ich der aktuellen gar nicht so neutral begegnen, wie ich gern würde. Deshalb brauche ich für Erzählbände auch immer länger.

Dazu kommt, dass mich (natürlich) nicht alle Erzählungen und Welten auf die gleiche Weise berühren. Selim hat ein paar großartige Texte in dieser Sammlung, aber nicht alle kommen für mich nicht da ran. Was besonders schade ist, wenn ich gerade aus einem sehr tollen Text komme, in dem ich gern länger geblieben wäre.

Dennoch: Selim Özdogan schafft es in diesem Buch einige Male, mich in neue Welten mitzunehmen, mich zu berühren und mich zum Nachdenken zu bringen.

Die Musik auf den Dächern von Selim Özdogan erschien bei der Edition Nautilus. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Transparenz: Ich kenne Selim. Im besten Fall bin ich dadurch ehrlicher und unbarmherziger.

Aufklärungsbuch: Kommt gut von Jüne Plā

Sexualität ist ein Thema, über das man nicht spricht.

Der erste Satz aus Kommt gut

Ich sah das Buch auf dem Nachttisch einer Freundin, der 12-jährige in mir musste über den Titel grinsen und ich mochte das Cover und die Zeichnungen. Also kaufe ich mir das Buch.

Ich habe vorher noch nie etwas von Jüne Plā und ihren Juissance Club auf Instagram gehört. Aber ab dem Vorwort mag ich ihre offene und verspielte Art, die sich durch das Buch zieht.

251 Seiten über Genitalien, Lustzonen, Masturbation und Ejakulation, inklusive anschaulicher Zeichnungen.

Ich glaube, wir brauchen noch viel mehr Kommunikation und Offenheit über Dinge, die eigentlich normal sind, aber unnormal werden, weil wir nicht drüber reden. Sexualität und sexuelles Vergnügen – besonders weibliches – gehören dazu. Jüne trägt mit ihrem Club und diesem Buch extrem viel bei. Ich habe viel Spaß gehabt und einiges gelernt und freue mich, immer wieder in diesem Buch Dinge nachschlagen zu können. Wäre eine bessere Welt, wenn wir mehr dieser Offenheit hätten.

Danke, Jüne.

Kleiner Wermutstropfen: Sina de Malafosse hat das Buch zwar sehr flüssig, ist aber extrem inkonsistent, was die inklusive Sprache angeht. Das hat mich manchmal rausgeworfen, weil ich nicht herausgefunden habe, nach welcher Form sie * oder / einsetzt. Ansonsten aber: Ein offenes, lockeres Aufklärungsbuch über unsere Körper und die Möglichkeiten, diese zu erregen. Ich liebe die Selbstverständlichkeit, die Jüne an den Tag legt.

Kommt gut von Jüne Plā wurde übersetzt von Sina de Malafosse und erschien bei echt emf.

Roman: Der Astronaut von Andy Weir

Was ist zwei plus zwei?

Der Erste Satz aus Der Astronaut

Ein Astronaut wacht ohne seine Erinnerungen als einziger Überlebender in einem Raumschiff auf, das auf der Mission zu sein scheint, die Menschheit zu retten.

Ich mochte Der Marsianer damals sehr, Artemis dagegen fühlte sich zu lektoriert und gewollt an. Deshalb war ich jetzt zwiegespalten. Dazu kam, dass sowohl Cover als auch Inhaltsangabe sich anfühlen wie Der Marsianer im neuen Gewand. Und ich wusste nicht, ob ich die quasi gleiche Geschichte nochmal lesen wollte.

Ich muss mich anfangs durch den etwas langen Teil der ersten Orientierung kämpfen (Überwindung des Unglaubens), dann war ich vollkommen drin. Der Astronaut hat all die coolen Sachen aus dem Marsianer – die lockere selbstironische Sprache, die nerdige Liebe für die Wissenschaften – aber zusätzlich noch ein paar Ebenen mehr. Selbst für die Erinnerungslücken gibt’s eine okaye Erklärung, mit der ich mich abfinden kann.

Andy Weir hat mit seinem dritten Buch wieder eine coole, warme, nerdige Geschichte geschrieben, wie der Marsianer, aber doch neu und mehr. Wenn das so weitergeht, freue ich mich auf noch vieles mehr.

Der Astronaut von Andy Weir erschien bei Heyne und wurde übersetzt von Jürgen Langowski. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.