Schlagwort: Kritik (Seite 1 von 30)

Roman: Nordstadt von Annika Büsing

„Ich liebe dich“, sage ich.

Der erste Satz aus „Nordstadt

Ich hätte nicht freiwillig zum Buch gegriffen. Titel und Cover haben mich nicht angesprochen und mit Steidl habe ich bisher andere Bücher in Verbindung gebracht. Aber im Rahmen meiner Juryarbeit bei Das Debüt lag dieses kleine Büchlein plötzlich auf meinem Tisch. Also dann, aufgeschlagen.

Ich hab die Lektüre zwar ein paar Mal unterbrechen müssen, aber tatsächlich fühlt es sich an, als ob Annika Büsing mich mit ihrer Geschichte und ihrer Sprache vollkommen in den Bann gezogen und nach einem wilden Ritt wieder ausgespuckt hat. Nene ist Anfang 20 und Bademeisterin, und das ist vielleicht das einzig Gute in einem richtigen Scheißleben. Und dann steht da Boris, der Krüppel mit einem eigenen Scheißleben. Reicht das, was auch immer zwischen ihnen ist, um zwei schlimme Vergangenheiten auszuhebeln?

Büsings Sprache ist direkt und dreckig, ist ehrlich und schmerzhaft im besten Sinn.

Nordstadt geht unter die Haut und beschäftigt mich noch Wochen später. Ich freue mich auf mehr solcher Geschichten und auf noch mehr von Annika Büsing. Ein Glück ist das neue Buch schon draußen.

Nordstadt von Annika Büsing erschien bei Steidl. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Hörbuch: Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes, gelesen von Nora Tschirner

Als Kind habe ich wieder und wieder von Zyankali geträumt. Ich weiß nicht, wie das Gift seinen Weg in mein Kinderzimmer gefunden hatte. Da sind schemenhafte Erinnerungen an Kriegs- und Agentenfilme, in denen Bösewichte silberne Kapseln zerbeißen und sich schäumend und röchelnd dem Zugriff entziehen. Vielleicht hatte ich auch schon eine vage Vorstellung von dem, was Goebbels mit seinen Kindern im Bunker gemacht hatte.

Der erste Absatz aus Die Träume anderer Leute

Judith Holofernes, ihre Stimme und ihre Texte begleiten mich seit knapp 20 Jahren, sind immer wieder an verschiedenen Orten und Zeitpunkten meines Lebens aufgetaucht. Und als wir vor ein paar Jahren bei Amanda Palmer auf dem Konzert waren, war Judith auch da. Hab mich nicht getraut, sie anzusprechen.

Jetzt also gibt es das Buch von Judith, vorgelesen von Nora Tschirner. Das ist einerseits total verständlich, weil Judith gut auf ihre Stimme achten muss, andererseits vermischen sich in einem Kopf Judith und Nora andauernd. Das Buch zu hören ist wie den zweiten Akt eines Filmes zu sehen, in dem Akt Eins aus einer anderen Perspektive nochmal erzählt wird. Also zurück in meine Jugend, zurück in die Momente, an denen ich die Helden zum ersten mal gehört habe und wo sie Teil meiner Erinnerung geworden sind, nur eben jetzt aus der Sicht von Judith.

Das ist spannend und nostalgisch und oft auch ernüchternd. Weil es hinter den Kulissen nie nur Liebe und Friede und so ist. Manchmal habe ich Tränen in den Augen und einige Male denke ich, Scheiße, dieses Gefühl kenne ich allzu gut.

Judith schreibt direkt und persönlich und ehrlich. Das macht viel des Buches aus. Manchmal denke ich, wenn ich beispielsweise Pola wäre, ihr Mann, dann würde ich mich von manchen Aussagen angegriffen fühlen. Aber vielleicht ist das der Preis für ein Buch, das mich auf so vielen Ebenen berührt.

Großen Respekt für diese Frau, ihr Tun und dieses Buch. Eines, das jede:r in jeder Art von Kulturarbeit gelesen haben sollte.

Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes wurde gelesen von Nora Tschirner und erschien bei Lübbe Audio. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Film: Maurice, der Kater

Ich mag die Bücher, die Pratchett geschrieben hat. Und obwohl ich Maurice noch nicht gelesen habe, war ich mir sicher, dass der Film nicht funktionieren wird. Der Trailer war viel zu nett, zu familienfreundlich für eine Pratchett-Verfilmung. Der Unterschied zwischen Maurice auf dem Buchcover und dem im Film fasst es ganz gut zusammen. Dazu kommt, dass der Film nur Mittags läuft, ganz eindeutig mit Kindern als Zielgruppe. Aber dann.

Ja, der Film ist mit der Zielgruppe Kinder gemacht. Und ja, Pratchett ist extrem abgemildert darin zu finden. Aber ich musste fast durchweg schmunzeln und ein paar Mal laut auflachen. Und wie bei jedem guten Kinderfilm gibt es auch hier die Ebene, die wir erst verstehen, wenn wir erwachsen sind. Und für Menschen, die sich mit Pratchett und der Scheibenwelt auskennen, gibt es ein paar schöne Easter Eggs.

Bisher es gibt es sehr wenige Filme, die das phantastische von Terry Pratchett und seiner Scheibenwelt gut einfangen konnten. Eigentlich nur Ab die Post. Während Maurice das auch nicht ganz hinkriegt, ist es trotzdem ein sehr solider Film, den man sich mit der ganzen Familie ansehen kann, auch wenn man noch nie was von der Scheibenwelt gehört hat. Und jetzt hab ich richtig Lust, das Buch zu lesen.

Maurice, der Kater, seit 9.2.23 im Kino. Danke an Telepool für die Pressetickets.

Film: Was man von hier aus sehen kann

Seit heute läuft Was man von hier aus sehen kann offiziell im Kino, wir saßen gestern in der Preview. Ich kann verstehen, warum viele Kritiker:innen den Vergleich zu Amélie ziehen. Ging mir schon beim Trailer so und geht mit nach dem Film immer noch so. Viele Szenen leicht überbelichtet, alles so ein bisschen absurder als unsere Realität und dazu ein sanfter Soundtrack. Aber die Leute, mit denen ich im Kino war, sehen das anders.

Wo wir uns einig waren, dass der Film zu gewollt ist und sich nicht entscheiden kann, ob er sich ernst nehmen will. Dadurch gibt es ein paar merkwürdige Szenen, die nicht so richtig reinpassen. Schade eigentlich, weil es auch ein paar echt schöne Momente gab. Die Szene mit den Briefen war schon im Buch eindrucksvoll und bleibt es auch im Film. Und Karl Markovics spielt den Optiker großartig. Aber der Rest? Zerfällt zwischen „absurd lustig sein“ und „ein realistisches Drama erzählen“.

Was man von hier aus sehen kann ist ein netter Film mit ein paar Lachern und ein paar sehr schönen Szenen. Aber leider nicht arg viel mehr.

Roman: Candy Haus von Jennifer Egan

„Weißt du, wonach ich mich sehne?“, fragte Bix, während er, wie üblich vor dem Schlafengehen, neben dem Bett Schultern und Wirbelsäule dehnte.

Der erste Satz aus Candy Haus

Vor zehn Jahren habe ich mein erstes Buch von Jennifer Egan gelesen, A visit from the goon squad. Ich war begeistert damals, von den Geschichten und der Art, wie Jennifer Egan sie erzählt. Jetzt ist Candy Haus draußen, quasi eine Fortsetzung. Was aber bei dieser Art von Buch nicht so einfach zu sagen ist. Wie schon beim Goon Squad geht es nicht um eine Geschichte, sondern um einen ganzen Haufen Charaktere und wie ihre Leben miteinander verwoben sind. Dabei gibt Egan jeder ihrer Figuren eine eigene Stimme, eine eigene Art, ihre Geschichte zu erzählen. Manchmal fühlt es sich mehr an, eine Sammlung an Kurzgeschichten zu lesen statt eines Romanes. Manche Kapitel taugen mir mehr als andere, aber alle sind miteinander verwoben. Was bedeutet, ich lese nicht nur ein Buch, ich muss die Story in meinem Kopf zusammenpuzzeln, immer auf der Suche, nach dem nächsten Teil und wo es hinpasst.

Candy Haus ist kein Spaziergang und schon gar keine Rolltreppe. Dieses Buch ist gewundener Pfad, dessen Boden sich immer wieder ändert und mich ein paar Mal herausgefordert hat. Es ist manchmal anstrengend, dran zu bleiben, aber es lohnt sich. Manche Kapitel sind relativ klar und simpel geschrieben, an die Erzählformen anderer musste ich mich erst gewöhnen. Und die wunderbare Kurzgeschichte Black Box, die Jennifer Egan zuerst auf Twitter veröffentlicht hatte, ist hier ein Kapitel zwischen den anderen und webt sich genauso in diese Welt ein. Auch wenn man A visit from the goon squad nicht gelesen hat, ist Candy Haus ein wunderbares, verzweigtes Universum, in das wir aus verschiedenen Winkeln hineinschauen dürfen. Das hätte ich gern noch viel länger gemacht.

Candy Haus von Jennifer Egan wurde übersetzt von Henning Ahrens und erschien bei S.Fischer. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.