Vergeudetes Potential

Mittlerweile muss sie sich selbst eingestehen, dass sie alt geworden ist. Die knarrenden Treppen bis ins Dachgeschoss nimmt sie Stufe für Stufe und immer öfter macht sie dazwischen halt. Aber noch will sie sich gewisse Dinge nicht nehmen lassen, so auch die Glasflaschen, die sie selbst zum Container bringt. Wer etwas benutzt, macht danach auch sauber, hatte ihr Vater immer gesagt. Ihr Vater ist nun seit 50 Jahren tot, aber sie hört immer noch seine Stimme, seine Melodie, mit der er dieses Mantra immer wieder gesagt hat.

Sie steht an den Containern, sortiert das Glas nach Farben und dreht bei jedem den Deckel ab, obwohl sie weiß, dass das nicht mehr nötig ist. Aber auch das ist ihr beigebracht worden. Zwei junge Frauen kommen auf sie zu, eher noch Mädchen und lange bevor sie bei ihr ankommen, weiß sie, dass sie Hilfe brauchen.

„Entschuldigung, wir müssten zur Erich-Kästner-Schule. Können Sie uns sagen, wo sie ist?“

Natürlich kann sie das und gerne macht sie das auch. Vielleicht sogar ein bisschen zu ausführlich, aber die Schule ist auch ein ganzes Stück weg. Auch das sagt sie den beiden, eine halbe Stunde Fußweg durch die Stadt müssten die Beiden schon einplanen, selbst wenn man noch jung ist.

Die Beiden nicken, muss wohl, sagen die Augen. Sie lächelt und sieht nach links und rechts. Keiner da, der sie beobachten könnte. Also stellt sie die Tasche mit den Gläsern ab, packt jeweils einen Arm der Mädchen und schließt die Augen. Bevor die Mädchen sich wegreissen können, stellt sie sich den Hof der Schule vor, die hintere Ecke, die einigermaßen verborgen hinter dem Kastanienbaum liegt. Sie hat den Geruch von schwitzenden Kindern in der Nase und spürt die achteckigen Platten unter ihren Füßen, dann schließen sich ihre Hände zu Fäusten und sie hört das „ffump“, das jedesmal kommt, wenn die Luft eine Leerstelle zu füllen hat. Das Lächeln wird zu einem Grinsen. Sie muss die Beiden nicht sehen, um sich vorzustellen, wie erstaunt sie sein werden. Das freut sie. Und glauben wird ihnen eh niemand.

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Eine Antwort zu „Vergeudetes Potential“

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